STILLE IST UNVERZICHTBAR
STILLE ist unverzichtbar. Ihr Fehlen ist ebenso zerstörerisch wie ihr erzwingen, das man gewöhnlich „Friedhofsruhe“ oder Totenstille nennt. Man braucht sie, um zu regenerieren, um Kräfte zu sammeln; man nutzt sie zur Konzentration, zur Meditation, zum Nachdenken ... um Neues vorzubereiten, also Altes abzubauen und Neues anzulegen. Stille ist oft Dreh- & Angel-punkt, Drehscheibe für Ende und Anfang, gleich der Nacht, über die vorher die Rede war. Doch wo gibt es größtmögliche Ruhe, Stille? Wo doch unsere Ohren immer offen sind, dagegen Augen, Mund verschließbar? Absolute Stille gibt es nicht. Denn bei absoluter Schallosigkeit käme die Bewegung zum Erliegen und damit letztendlich das Leben. Der Versuch, Stille zu definieren, sie zu „begreifen“, zu „erfassen“, bringt uns in ein Dilemma, trennt (direktes) Erleben/Sein vom Nach-vollziehen/Bewußtsein (Wort und Ton stehen dabei - freilich bedingt - für die Abwesenheit des Erlebten). Denn - so Novalis - „... wovon man spricht, das hat man nicht“. Allerdings kann dieses Nicht-Haben bereits in die Stille vorverlegt sein (nicht erst durch Wort und Ton), wenn nämlich das Bewußtsein eingeschaltet und über „Fehlendes“ nachgedacht wird.

[Aus: Silences. (Ver-)Schweigen. (1990)]

 

STILLE TRÄGT DIALEKTISCHEN CHARAKTER
STILLE trägt dialektischen Charakter, birgt als TOTAL die Gleichzeitigkeit von entweder-oder, von Sein und Nichtsein, von Emotion und Einsicht, von Sehnsucht, Hoffnung, Kraft und auch von Verzweiflung, Aussichtslosigkeit, Zerstörung, Zerfall und Leere. 

[Aus: Silences. (Ver-)Schweigen. (1990)]

 

STILLE/STILLE HALTEN - SCHWEIGEN/VERSCHWIEGEN
Ordentliche Bürger halten in der Nacht stille (Ventile sind natürlich sorgfältig installiert). Ordentliche Bürger achten darauf, daß auch bei Tag Ruhe herrscht. Ruhe muß sein, unabdingbare Voraussetzung für Ordnung ... Dafür wird geschwiegen ... ... und zum Schweigen gebracht. Und wo nicht mehr geschwiegen werden kann, wird „geredet“: geheuchelt, vertuscht, verharmlost, verdreht, gelogen, verteufelt, gesegnet ... Wo aber das „Reden, um zu verschweigen“ nichts mehr nützt, wird gehandelt, wird zu Mitteln der (staatlichen) Gewalt gegriffen (unterstützt von - faschistischen - Handlangern), wird gemaßregelt, verfolgt, verurteilt, eingesperrt; wird gefoltert, konterrevolutionärer Umsturz organisiert, Krieg geführt ... Für die Tabuisierten, Zensierten, von Berufsverbot-Belegten, Diskriminierten ... Ausgestoßen heißt zum-Schweigen-gebracht und VERschwiegen zu werden oft nicht nur UNterdrückung von außen, sondern kann als Folge verzweifeltes In- und Auf-sich-Zurückziehen, Selbstbeschränkung, Selbstzensur, gar Selbsttötung zeitigen. Für die Verfolgten, Verschleppten, Eingesperrten, Gefolterten ... kann (staatlicher) Terror nicht nur heißen, totgeschwiegen zu sein, sondern zum endgültigen Schweigen gebracht, also tot-geschwiegen zu werden. Mit äußerer Disziplinierung geht die innere Konfektionierung des Menschen in allen Lebenslagen einher. „Ständiges Beschäftigen“ ist dabei Strategie: das Ausmerzen von Stille, denn es wird versucht mit allen Mitteln die Hirne zu verkleistern. Diese „unablässige Beschäftigung“ läuft aufs Abstumpfen, aufs Abtöten der Sinne hinaus. Dahinter steckt System, von Karl Marx und Friedrich Engels einmal grundlegend analysiert; ein System der Entfremdung, der Aufspaltung, der Aufteilung, der Vereinzelung, der Vereinsamung des Menschen zur Ware, um fürs Ausgelaugt-Werden zu funktionieren. Offenbar ist in diesem System STILLE (als Ort des NAchdenkens, der Sammlung, der Zeit für sich selbst und somit gewissermaßen Ort der Selbstrealisierung) verdächtig - ähnlich der „Nacht“. (Ausnahmen werden nur geduldet, wenn sie systemkonform bleiben.) Sie ist tatsächlich insofern gefährlich, als erzwungenes Stillhalten (das Sich-ducken-Müssen, das Erniedrigt werden, das Degradiert-Werden zu Menschen minderen Werts) und Ruhe zum Nachdenken, zum Analysieren einen Neu-Anfang in sich tragen. Im Schweigen, das das Nicht-mehr-Können, das das Aus, das den Tod bedeuten kann, steckt gleichzeitig der Anstoß für Empörung, Widerstand; es gibt Signal zum Aufbegehren, zum Revoltieren. Denn „Friedhofsruhe“, „Totenstille“ kann zwar grausam aufrechterhalten sein für Jahre, doch begrenzt! Das lehrt die Geschichte, die selbst „1000 Jahre“ zu zwölfen zusammenzuschmelzen vermochte. Der deutschsprachge Dichter Paul Celan (1920-1970) prägt dafür in seinem Gedicht Argumentum e silentio den poetischen Begriff „erschwiegenes Wort“. 

[Aus: Silences. (Ver-)Schweigen. (1990)]

 

STILLE HÖREN LERNEN
Die desolate Situation wird vollends evident, wenn Komponisten „Stille“ komponieren - und damit Räume öffnen wollen für Phantasie, für denkende Emotion. Da „Stille“ jedoch im eklatanten Widerspruch zum System der „ständigen akustischen Beschäftigung“ steht, hinterläßt sie - wenn nicht immer noch als Provokation aufgefaßt - zumindest Ratlosigkeit. ... die Ohren beginnen zu „brennen“, besser: der Kopf ... weil man auf sich selbst zurückgeworfen ist. Sprach-, nein „Hörlosigkeit“ wird wahrnehmbar, und damit das, was versäumt wurde; subjektiv natürlich auch, vor allem aber durch den unsere Gesellschaft charakterisierenden Mangel an Unvoreingenommenheit, Offenheit, Neugierde, Neuem, Unbequemem, Andersartigem oder Andersdenkenden gegenüber - in welcher Beziehung auch immer. Das schmerzt. Das zu ändern verlangt einen Typ - einen offenen, nüchtern denkenden, klar analysierenden und dennoch einfühlsamen - wie den der „Kassandra“ von Christa Wolf, die ihre Kassandra sagen läßt: „Ich lernte, indem ich die Arten zu schweigen beobachtete.“ Wenn sich dieses Lernen verbreitete und sich Hören und Denken so öffnen könnten, daß sich die Ohren nur dann „blutig“ schinden, wenn sie ... bei heimtückischer Berieselung, bei rücksichtsloser Dauerbeschäftigung, bei akustischem Leerlauf und einem Sonderangebot künstlich hochgezüchteter uraltromantischer Emotionen und Haltungen ... beleidigt werden. Viel wäre dann erreicht! 

[Aus: "Man schindet die Ohren sich blutig an Noten!" (1991)]

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