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AMTRACKS
AMTRACKS - Eine Audioassamblage für 7 Vokalisten, ein für die Kunstzeitschrift ARTIC entstandenes, während eines USA-Aufenthaltes im Frühjahr 2004 skizziertes und danach auf Kreta ausgearbeitetes Konzertstück bzw. Musiktheater, verwendet Ausrisse verschiedenster Publikationen, die Entwicklungen der US-amerikanischen Gesellschaft nachspüren - nicht nur aus Zeitungen oder Zeitschriften der Monate April-Juni 2004, sondern auch aus „The Emancipation Proclamation
, in der 1862 Präsident Abraham Lincoln den amerikanischen Sklaven Freiheit versprach, aus dem USA Patriot Act, der nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 das wehrhaft Patriotische im so genannten Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf die Agenda setzt, und aus dem Buch "Guns, Germs, and Steel" von Jared Diamond, das Wurzeln der amerikanischen Gesellschaft bloßlegt, Folgen der europäischen Invasion der Neuen Welt
. Kontrastiert werden diese artifiziellen Fragmente von zwei Gedichten der antiken Dichterin Sappho, die - obwohl durch Jahrhunderte erodiert - ein tiefes Verständnis für das menschliche Schicksal durchscheinen lassen. Für Sappho ist das Herz, die Bewältigung des Zorns über Schmerz und Anschuldigungen zentral; nicht die Befleckung des Rufs kann ihr etwas anhaben, nein, sie empfindet das Suchen von Antworten, das Erfahren der Sinne, die Öffnung für andere Gedanken, andere Konzeptionen als Mittelpunkt des Lebens, für sie ist ein anderer Geist, der Geist derer, die gesegnet sind, Maßstab - und Alternative zu dem, was die politische Öffentlichkeit (meist besseren Wissens zum Trotz) setzt, um zu beschränken, einzuengen, Zwietracht zu säen, zu disziplinieren... 
[Aus: Beitrag über Vokalwerke in der Kunstzeitschrift ARTIC (8-2004)]

 

CASSANDRACOMPLEX - Musiktheater nach Kassandra von Christa Wolf
Die Figur der Kassandra hat mich deswegen immer fasziniert, weil in jeder Zeit meines Lebens sofort Parallelen zur Gegenwart sichtbar waren. In den 60er, 68er Jahren war mir bewusst, dass Entwicklungen in der Gesellschaft deutlich sind, aber nicht wirklich akzeptiert werden und auch nicht darauf eingegangen wird, sondern nur an Symptomen herumlaboriert wird. Und das ist eigentlich eine Charakterisierung, die bis heute gilt und wohl auch noch einige Zeit gelten wird. Anfang der 80er Jahre kam zu meiner großen Freude ein Roman, eine neue Beschäftigung mit dem Stoff durch Christa Wolf, die mich sofort in Bann zog aufgrund der neuen Perspektive, die sie zur Mythologie oder über die Mythologie hinaus gesehen hat und die auch auf heute eine Übertragung zuließ.
Ein ganz wichtiger Bereich der sich mit der griechischen Mythologie geändert hat, ist die Funktion der Frau. Mit Apollon wurde das
Licht installiert und mit diesem Licht wird der Beginn bzw. die Installierung des Patriarchats und die Aufhebung des Matriarchats umschrieben. Mit Kassandra ist durch Christa Wolf eine Figur wiederentdeckt, die beginnt, dieses angebliche Dunkle
des Weiblichen gegen das Licht zu setzen und in ein Gleichgewicht zu bringen. Dieser Apollon bekommt eigentlich von Kassandra seine Macht, wird also gemacht. Das ist ja das Verhängnisvolle, was uns die ganzen 2000 Jahre danach ständig in Katastrophen getrieben hat: Dieses Unausgeglichene zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen. 
[Aus: ... auf dem St.-Andreas-Graben sitzen (1997)]

 

In Vorbereitung der Oper CassandraComplex gebrauchte ich zum ersten Mal eine geschlossene Zahlenreihe, durch deren beständig abgewandelte Definition komplexe Vorgänge nachgezeichnet werden. Gewürfelt, definiert sie zunächst verschiedene Kassandra-Studien, deren Strukturen später in die Oper einfließen, thematische Pfeiler markierend; denn jede Studie behandelt für sich bestimmte Grundsituationen der Erzählung Kassandra von Christa Wolf, die schließlich zur Basis von CassandraComplex werden. 
[Aus: ...yes, No-no... (1997)]

 

DEN MÜLLFAHRERN VON SAN FRANCISCO
... so weckten mich einmal - in San Francisco - frühmorgens Müllarbeiter ziemlich jäh, vor allem durch ihren Wagen. Zuerst war ich verärgert, weil er wahnsinnigen Lärm von sich gab, der sich direkt in meinen Kopf bohrte und im Gehirn verkrampfte. In gut einer Viertelstunde löste sich aber der Krampf, mußte sich lösen, weil ich allmählich von den lauten Klängen des Müllautos derart fasziniert war, dass ich die unfreiwillige Unterbrechung des Schlafens vergaß. Es waren Klänge, äußerst klar konturiert, und immer von ziemlicher Dauer: Geräusche vom hydraulischen Auffahren und Aufklappen der hinteren Luke und dann während das Fahrzeug offen war, der Sound einer - meist erschreckend reinen - großen Terz, die plötzlich in ganz tiefe Frequenzbereiche zusammensackte. Das blieb im Gedächtnis haften, setzte sich fest, schließlich habe ich es auch notiert, und es wurde Bestandteil der Komposition, die ich den Müllfahrern von San Francisco widmete. Der Untertitel lautet: Ein Akronym aus akustischen Erinnerungen an eine Reise (wobei der Singular hier natürlich als pars pro toto zu verstehen ist). Ein Akronym ist ein aus mehreren Buchstaben zusammengesetztes neues Wort. Hier handelt es sich allerdings statt um ein Wort eben um Musik, die von unterschiedlichsten Einfüssen und untergründig wirkenden Mechanismen geprägt ist. Konstitutiv für das Rhythmische sind dabei - gleichsam geheim, weil unhörbar bzw. nicht direkt hörbar - weite Teile des Gedichtes Amerika von Allen Ginsberg, der auch eine Zeitlang in San Francisco lebte. Das Gedicht ist hier nämlich codiert, d. h. in Morserhythmen übertragen: Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Zeile für Zeile, die bei sich ständig ändernden Binnenrhythmen zunächst auch sukzessiv ablaufen, sich dann aber verdichtend übereinanderschichten. 

[Aus: Call a Spade Spider a Spade. Rückstahlungen von Reisen (1992)]

 

INTERNET-ZYKLUS
Die Struktur des Internet ist von enormem, eminent künstlerischen Reiz. Sie arbeitet wie eine Komposition, verknüpft alles mit allem, lässt direkte, indirekte, Um- und Abwege zu und bindet durch das Surfen das zufällige Entdecken, das Aufhorchen bei etwas, was man bisher noch nicht wahrnahm, das genauere Hinsehen bei bisher Unbekanntem, kurz die Welt des Zufalls (im Sinne von Chance) mit ein. Natürlich ist das Vorgaukeln der allumfassenden Präsenz Trug, wesentlich ist (und bleibt) das Fragmentarische, über das auch das Internet nicht hinauszureichen vermag, aber durch seine Buntheit, seine Vielfalt Prozesse vielgestaltiger verfolgen läßt. Umgekehrt ebenso: Das was einmal gedacht, erforscht, gestaltet war, ist auch in Ansätzen, Andeutungen, bei Fragmentierung präsent. Implizit entsteht aus der Internet-Idee - fast automatisch - die Anlage unzähliger Stücke. Das INTERNET-Projekt, das Ende November 1995 auf einer Reise nach Barcelona konzipiert und mit INTERNET 3.2 für Mezzosopran, Klavier und Schlagzeug in den Monaten danach erste Gestalt annahm, geht von diesen Überlegungen aus und nimmt Internet-Strukturen als Prinzipien der Komposition. Vier Stücke strike the ear (1987/88), Nachbeben und davor: (1988/89), Den Müllfahrern von San Francisco (1989/90) und Zeitsprünge (1990) geben das Fundament, das Material, durch das gesurft wird. Die Zahlenreihe BAB(ylon), im Frühjahr 1994 in Japan notiert, triggert die Auswahl von bestimmten Akkorden aus diesen Stücken und lässt Schichten entstehen, die trotz zerstückelten Zitierens innere Verbindungen aufweisen, weil die Kompositionen, die zugrunde gelegt sind, jeweils eine eigene Entstehungsgeschichte, einen unverwechselbaren Inhalt und damit eine prägnante Struktur aufweisen.

[Aus: Gefahr und Chancen (1997)]

 

Journal 9´1119
JOURNAL 9´1119 für Flöten, Schlagzeug, Tonband und Gerüche enstand 1996 am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe im Auftrag des Duos Archaeopteryx und greift dabei als musikalisches Protokoll - in enger Verwandtschaft zur gemeinsam realisierten Musik des Tanztheaters Kassandra von Birgit Scherzer und Matthias Kaiser für das Staatstheater Saarbrücken - unter anderem auch auf die beiden [...] Kompositionen der letzten 30 Jahre zurück, auf Material aus ...strike the ear...einerseits und auf einige von mir interpretierte vokale Passagen aus dem zweiten Teil [...] vondrüber andererseits. Beide Stücke - ebenso wie die Komposition Kassandra für Schlagzeug und Stimmen - setzen sich mit Strukturen der Macht auseinander, mit körperlichen, physischen und mentalen; drüber sehr direkt, indem dort Konflikte, Abhängigkeiten, das Be-Herrschen auf die Spitze getrieben im Schrei oder Nicht-mehr-schreien-können enden, um dann - mit musikalischen Mitteln - die Auswirkungen physischer und psychischer Verknotungen in der Kommunikation unter Menschen analysieren zu können. ...strike the ear... nimmt sich dagegen von außen auf den Menschen zukommende Verhältnisse vor und lenkt das Hören auf Strukturen, die unsere Gesellschaft abstumpfen und so zu zentrieren versuchen, dass Gleichschritt das Maß aller Dinge zu werden droht. JOURNAL 9´1119 verknüpft diese Ansätze, fass sie zusammen und vertieft sie dadurch, dass die Musik hier teils mit ihrer massiven Klanglichkeit, teils mit ihrer Zerbrechlichkeit, ihrer offenen Brüchigkeit - live und auf Band, hörend und sehend und riechend - in emotionale Tiefenschichten vordringt, um allegorisch auf ein Gefüge gesellschaftlicher Zwänge und Macht zu weisen, in denen wir stecken - unscheinbar oft, verborgen. JOURNAL 9´1119 "referiert" musikalisch Abläufe des Alltäglichen und weitet sie im Dialog der beiden Spieler über Kommunikationsnetze zu Drahtseilakten zwischen dem Hören sich untergründig, zwischen kaum merklich, aber dennoch allmählich sich verändernden Klängen, peitschend-nervenden Ohrenstechern, dem warmen Schein fluoreszierenden Plastiktands und knisternd-stinkendem Fett, mit dem heutzutage landauf, landab Gaumen beleidigt werden. JOURNAL 9´1119 ist jedes musikalische, visuelle und olfaktorische Mittel recht, wenn es nur sensitive Gratwanderungen erlaubt, die ähnlich in vielen Alltagsbereichen zu beschreiten nötig wären; Alltagsbereiche, die jedoch oft - aus Bequemlichkeit, aus Mangel an Distanz - weiß bleiben. 

[Aus: ...weiße Räume erkunden..., in: Hg: C. Brüstle, M. Rebstock, H. Schulze: musik/politik, Saarbrücken (Pfau) 2004 (=Musik im Dialog V)]

 

SÜNDE. FALL. BEIL.
Gleich Vorgängen in einigen der skurrilen Maschinen von Jean Tinguely, versucht die Musik zur königlichen Oper Sünde. Fall. Beil., die toten Schädel in Bewegung zu setzen, d. h. mit Mitteln der Montage und der subkutanen Aufladung von semantischen Beziehungen, die durchgängige Story zu vernetzen, zu kontrapunktieren, zu konterkarieren, die handelnden, wandelnden Möbel gleichsam akustisch auszuleuchten. Dabei basiert die musikalischen Struktur auf wenigen kurzen, prägnanten Begriffen, die den inhaltlichen Rahmen abstecken und umgesetzt in (Morse)-Rhythmik den musikalischen Verlauf bestimmen ( siehe Semantik-Kreis). Freilich nicht eindimensional, sondern als Keimzelle größerer struktureller Einheiten, die wiederum selbst zu einem semantischen Komplex werden und als gesetzte musikalische Struktur nach vorn bzw. zurück verweisen, also Zusammenhänge herstellen, wo auf den ersten Blick bzw. beim ersten Hinhören keine zu sein scheinen, oder die bisweilen auch negieren, was auf der Handlungsebene passiert, und somit stören. Denn viele rhythmische, desgleichen dynamische, klangfarbliche bzw. Frequenz-Strukturen sind abgeleitet von der Umsetzung bestimmter Worte oder Wort-Ketten, die in Bezug oder Widerspruch zum unmittelbar im Gesang Ausgedrückten stehen. 

[Aus: Sünde. Fall. Beil. (1992)]

 

TIME•OUT
TIME•OUT zielt mit seinem Titel auf verschiedene Anforderungen an Zeit, an die immer beengter werdende Zeit unmittelbarer Kommunikation, an die Freizeit bzw. an die Zeit draußen, außerhalb einer meist von anderen beanspruchten beruflichen Zeit auch, nicht zuletzt jedoch an eine immer wieder provokativ gebrauchte, politische Drohung Time is out! - Die Zeit ist aus!, die von Herrschsüchtigen nicht nur als Ultimatum gegen gleichfalls Herrschsüchtige vor einem Angriffskrieg ausgestoßen wird, sondern zusehends - unzulässig - auch unseren Alltag zu durchdringen sucht. TIME•OUT - Instrumentales Theater für zwei Vokalistinnen, Klarinette, Posaune, Violoncello, Akkordeon, Tonband und Video basiert auf Agnes Martins Parable of the Equal Hearts (2003). 

[Aus: Vorwort der Partitur (2003)]

 

TWILIGHTS - PROTOKOLLE FÜR TONBAND
Morsecodes hatte ich schon einmal verwendet, nämlich in twilights - Protokolle für Tonband, die 1983 am Computermusik-Zentrum der Stanford Universität und im Elektronischen Studio der Folkwanghochschule in Essen realisiert wurden. Dort bildet das Morsen allerdings eine eigene Schicht (mit einem Text von Marx, den vielleicht revolutionäre Funker noch entziffern könnten), die hauptsächlich charakterisiert ist vom bloßen Codieren konkreter Mitteilungen und zwar inhaltliche Bezüge zum zum übrigen Material aufweist, aber nicht bestimmend wird für die gesamte Komposition. 

[Aus: Call a Spade Spider a Spade. Rückstahlungen von Reisen (1992)]

 

WARNUNG MIT LIEBESLIED
Im Trio Warnung mit Liebeslied (1986) beschäftigte ich mich - nach der frühen Erkrankung eines nahen Freundes - mit dem Thema AIDS, mit der schleichenden, erst unsichtbaren Vereinnahmung eines infizierten Körpers, mit der Chance, die in der Brechung des Tabus Tod steckt, mit der Chance auch, die das Persönliche, das wonach einer Liebender sich sehnt (Sappho) gegen ach so mächtige Anforderungen öffentlicher Macht stellt. Dazu sammelte ich gesungene, gespielte Klang- und Melodiefetzen von Bettlern in Lissabon und kombinierte sie mit Klängen der Samba, die ursprünglich auf zwischen zerbrochenem Glas und Feuer getanzten Zeremonien afrikanischer Bantus zurückgehen. Die Instrumentation mit Akkordeon, Harfe und Glasschlagwerk ist darauf ausgerichtet wie auch das geheime Gerüst des Trios, das insbesondere Zahlenkombinationen aus 11, 13, 17, teilweise aus Vielfachen davon, bildet. Die Zusammensetzung der kompositorischen Elemente geschieht dabei in erster Linie aus inhaltlichen Erwägungen, denn von Anfang an geraten zwei Strukturen - eine elegisch-rhythmische und eine mechanisch-gleichgerichtete - zunächst unmerklich, dann immer auffälliger in Auseinandersetzung. Die mechanisch-gleichgerichtete, die alles einebnende, egalisierende dominiert schließlich, wird jedoch so schnell, dass sie sich wegen ihrer quasi unspielbaren Geschwindigkeit in ihr Gegenteil verkehrt und (auf Grund von Balggeräuschen des Akkordeons) zu atmen beginnt. 

[Aus: Heterotopien Zahlen (2001)]

 

]with what eyes?[
]with what eyes?[ ist inspiriert von Texten Sapphos des griechisch-englischen Gedichtbandes
IF NOT, WINTER“ mit Übersetzungen der amerikanischen Dichterin Anne Carson, in denen zwischen einzelnen Lauten, Silben und Worten trotz Jahrtausende langer Erosion auch Zeilen und Strophen überliefert werden, die tiefe Kenntnis des dornenreichen menschlichen Zusammenlebens dokumentieren. Die verlorenen Liedteile zwischen den Fragmenten, die stummen Texte also, regen jedoch ebenfalls auf besondere Weise die Phantasie an, reizen zum kombinatorischen Nachdenken und lassen die Weisheit der antiken Sängerin erahnen - und ihre Umsicht. Gerade sie stellen Fragen, unterschiedliche Blickwinkel auf Dinge provozierend und sind - wie der Titel ]with what eyes?[ (mit welchen Augen zu sehen?), ein für sich stehendes Fragment der Sappho - Quell vielseitiger An- und Einsichten.

 

 

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