Wenn der überwältigend blaue Himmel an einem hochsommerlichen Tag zum Auslöser wird für Paul Austers Gedicht Facing the Music, geschieht dies nicht, ohne dass zugleich der alte Topos von der Unzulänglichkeit der Sprache ins Spiel gebracht wird. Besungen wird die Unmöglichkeit, die besondere Beschaffenheit des grün angehauchten Blaus in Worte zu fassen. Für Gerhard Stäbler werden die Farben Blau und Grün, wird die ungreifbare Konsistenz der doch scheinbar so greifbaren blauen Luft zur Chiffre. Sie stehen für die Präsenz des flüchtigen Augenblicks, die Stäbler schon früher in Die Reise für Ensemble und Ithaka für Koto und Stimme thematisierte und die auch in Austers Gedicht beschworen wird: "this desire for nothing but the day itself".
Das Gedicht prägt ...und in diesem Blau eine Ahnung von Grün... (2005-2006) Musik für Sopran, Sopransaxophon, Posaune und Orchester Stäblers auf verschiedenen Ebenen, nicht nur in der vollständigen Rezitation durch den Solo-Sopran. Auch in den Orchesterklang geht der Text ein, wenn auch nicht im Wortlaut: in mehreren Abschnitten bestimmt der Rhythmus der Verse die musikalische Textur. Jeder Musiker wählt dazu bestimmte Verszeilen aus, die er auf seinem Instrument "rezitiert": die Bläser artikulieren den Versrhythmus auf ihrem Instrument, die Streicher setzen ihn mittels ihrer Bogenführung um. Unterschiedliche Tonhöhen bzw. Tonkomplexe stellt Stäbler hierfür zur Auswahl. Diese "musikalische Prosa", wie er es nennt, erzeugt verschiedenste, sich überlagernde Klangbänder, die sich ganz allmählich wandeln. Sie sind in sich bewegt wie der Klang eines entfernten Stimmengewirrs oder sie changieren wie die Himmelsfarbe in Austers Gedicht. Solche Klangfelder, die nicht akribisch ausnotiert sind, sondern sich frei entfalten können, verwendete Stäbler bereits in den Orchesterpartien von "Notebook" (2003) für Viola und Orchester, dort allerdings als Reminiszenz an das Changieren der Farben auf einer silbrigen, schwarz-blauen Meeresoberfläche. Diese Technik wird in ...und in diesem Blau eine Ahnung von Grün..., insbesondere im Bereich der Tonhöhenorganisation, differenziert. Stäbler verbindet so Elemente improvisatorischer Freiheit mit präzisen Vorstellungen des klanglichen Resultats.
Die unscharfe Trennlinie zwischen Grün und Blau aus dem Gedicht bestimmt zudem als Metapher weite Teile des Stücks: das unaussprechliche Changieren der Farben wird zu einem vielfältigen Changieren von Klängen. Auch wenn Sopran, Sopransaxophon und Posaune (letztere in sehr hoher Lage) als Solisten auf engem Tonraum umeinander kreisen oder sich von Ton zu Ton abwechseln, entstehen changierende Klangfarben. Für die eigentliche Rezitation des Gedichts durch die Solostimme ist ein Balancieren zwischen Singen und Sprechen vorgesehen, das der vom Schauspiel kommenden Sopranistin Salome Kammer auf den Leib geschrieben ist. Während die Stimme Austers Gedicht klanglich in der Schwebe hält, setzt das Orchester pulsierende Klangflächen dagegen, die aufgrund minimaler rhythmischer Verschiebungen zu flimmern beginnen. Sogar wenn die Sängerin ausschließlich Konsonanten artikuliert, über Geräuschen von Bläsern und Streichern und rasselndem Papier, ergeben sich Schattierungen im Bereich des Tonlosen.
Mit dem großen Orchester strebt Stäbler einen insgesamt breit aufgefächerten, aber trotzdem leichten Klang an; zum Beispiel im ersten, sehr leisen und mit "frisch" bezeichneten Abschnitt, der in einer mehrfach sich überlagernden, im Prinzip statischen Wellenbewegung den sommerlich erfüllten Augenblick evoziert. Zugleich darf man in seinem spiegelsymmetrischen Bau ein Abbild des Spiegelverhältnisses von Himmel und Erde aus Austers Gedicht sehen, welches das Gefühl des Schwebens zwischen "oben" und "unten" vermittelt. Die Streicher sind fast durchweg geteilt, was eine kammermusikalische, individuelle Herangehensweise nahelegt und einen "luftigen" Klang befördert, auch wenn das Orchester gegen Schluss mit scheinbar massiven Klangblöcken jongliert.


Hella Melkert