Gerhard Stäbler
gehört zu den Künstlern, für die Kunst und Alltag keine grundsätzlich
getrennten Welten sind. Kunst bedeutet ihm nicht einen abgegrenzten, idealen
Raum, sondern seine Musik ist in hohem Maße durchlässig für
Situationen und Eindrücke aus dem Alltag, insbesondere für Klänge.
Er greift sie auf, wie sie sich ihm zum Beispiel unterwegs auf seinen vielen
Reisen vortun, und verankert sie in seinen Kompositionen, zum Beispiel in Den
Müllfahrern von San Francisco für Ensemble (1989/90). Eine solche
Ästhetik, die Alltägliches nicht missachtet, schätzt er auch
bei Künstlern aus anderen Disziplinen, bei dem Maler Francesco Clemente
zum Beispiel und in den Gedichten von Konstantinos Kavafis. Die Lyrik Kavafis’
(1863-1933), des wichtigsten griechischen Dichters der Moderne, gewinnt im Schaffen
Stäblers zunehmend an Gewicht; hier findet er viele seiner Ansichten auf
überzeitliche Weise in Worte gefasst. In Ithaka für Koto
(und Stimme) (2003) (2003) auf Kavafis’ gleichnamiges Gedicht hatte Stäbler
die Idee des Lebens als einer Reise aufgegriffen; in ...day by day...
für zwei Schlagzeugsolisten, drei Vokalistinnen und großes Orchester
(2003-2004) hat er mit der Vertonung von Warten auf die Barbaren eine
bestimmte politisch-gesellschaftliche Haltung kritisiert. In Nachmittagssonne
fokussiert Stäbler nun zum ersten Mal einen wichtigen Aspekt von Kavafis’
Lebensrealität. Der Dichter aus dem kosmopolitischen Alexandria hat sich
in seiner Poesie für die damaligen Verhältnisse sehr offen und zugleich
mit einer unnachdrücklichen Selbstverständlichkeit zu seiner Homoerotik
bekannt – damit anknüpfend, bewusst oder unbewusst, an altgriechische
Poesie aus der Antike, beispielsweise der Dichterin Sappho (um 600 v. Chr.).
Stäbler gruppiert vier Gedichte von Kavafis so, dass sie – obwohl
nicht vom Dichter selbst so zusammengestellt – in einem Monolog einzelne
Stationen einer Liebesbeziehung zweier Männer evozieren. Dies geschieht
aber durchweg im Rückblick, aus der Erinnerung des einen, des "lyrischen
Ichs". Der moderne Ton ergibt sich vor allem aus der Nüchternheit,
mit der Kavafis die Alltagswelt in seine Poesie einbezieht, sowie daraus, dass
er die eher hässlichen, aber sehr reellen Seiten dieser Liebe, wie die
Abhängigkeit von Geld, nicht ausblendet.
Die in Nachmittagssonne bewusst sparsam gewählten Mittel lassen
dem Hörer Raum, mehr andeutend als explizit erzählend – so,
wie auch in Kavafis’ Gedichten wichtige Ereignisse ausgespart werden und
viel Platz "zwischen den Zeilen" bleibt, sogar in buchstäblichem
Sinne. Zugleich schafft Stäbler aus Worten, aus konzentrierten Klängen
sowie aus dem Wechsel von Licht und Dunkel imaginäre Räume auf der
Bühne. Das erste Gedicht, Er schwört, handelt, quasi als
Prolog, von der unausweichlichen Anziehungskraft nächtlicher Verlockungen,
in die der Protagonist hineinsteigt. In der Vertonung des zweiten Gedichts (Die
Nachmittagssonne) entsteht das präzise umrissene Bild eines Zimmers,
das mit der Erinnerung an die hinein scheinende Nachmittagssonne zum Abbild
verlorener Momente der Intimität wird. Dieses Zimmer weitet sich im dritten
Gedicht (Blumen, schön und weiss) zu einem "Kafeníon",
einem griechischen Kaffeehaus, das als Motiv bei Kavafis häufig anzutreffen
ist und das hier den öffentlichen Raum andeutet: "hinter transparenten
Wänden" im Bühnenhintergrund spielen sich, so Stäblers Bühnenhinweis,
"erotische Szenen" ab, "flüchtige Begegnungen und Andeutungen
sexuellen Werbens in Straßen usw., inspiriert von Gedichten Konstantinos
Kavafis". Hier findet diese Liebe ihr tragisches Ende. Wenn der Erzähler
die harten Worte des Geliebten wiedergibt: "Ich muss es Dir sagen, ein
anderer will mich", lässt Stäbler dies von den Streichern, die
auf der Bühne spielen, kommentieren. Zu ihren Geräuschklängen
flüstern sie fragmentarische Verszeilen von Sappho. Im letzten Gedicht
("Weit weg") bleibt nur der innere, immaterielle Raum der Erinnerung.
Diese selbst aber bleibt unbestimmt, in der Schwebe.
Dem beherrschten Ton Kavafis’ entspricht die auffällige Zurückhaltung
des Baritons; die Streicher auf der Bühne spüren den im Text angedeuteten
emotionalen Spannungen nach. Sie unterstützen die Bogenform des Monologs,
der eine Bewegung von der Intimität in die Öffentlichkeit und nach
der Katastrophe zurück in den Innenraum der Erinnerung vollzieht. Zum gesprochenen
ersten Gedicht erklingen einzelne leise Streichertöne; vom Tonband treten
Klänge hinzu, die Stäbler aus einer späten Klavierkomposition
Franz Liszts mit dem Titel Sospiri! – zu Deutsch Seufzer! –
destillierte. Im Gedicht Die Nachmittagssonne wechseln beherrschte
rezitativische Passagen des Baritons mit dissonanten, zwischen dynamischen Extremen
changierenden Streicher-Tremoli. In der Szene im Kaffeehaus führen die
Streicher zum "mit innerer Anspannung" zu sprechenden Text zwei Arten
von Aktionen durch: aufgewühlt-laute Glissandolinien stehen neben geräuschhaften
Schlägen auf dem Steg. Nur wenige gesungene Klagelaute erlaubt sich der
Erzähler hier als emotionalen Ausbruch, bevor er "stockend und mit
innerer Distanz" die weißen Blumen auf der Bahre des verstorbenen
Geliebten schildert, begleitet von den ganz allmählich zurücktretenden
Streichern. Das Gedicht Weit weg schließlich singt der Bariton
alleine, die Zerbrechlichkeit der Erinnerung in wenigen Falsetttönen einfangend.
Hella Melkert
22. Juni 2006