Schwarz. Mit riesigen Schnäbeln. In Scharen fliegen sie, "zerhacken" mit ihren Menschen-ähnlichen Schreien – sichtbar und unsichtbar – den Klang der Megapolis Tokio... Schlau sollen sie sein, in Unrat herumstochern…

KARAS.KRÄHEN ist der Titel einer Komposition für Tonband – begleitet von Stimme und Instrumenten –, die musikalisch-emotional nachspürt, was in Asien wie im westlichen Abendland Raben seit alters zugeschrieben wird. Aus der chinesischen Mythologie wissen wir, dass die Himmelskörper, vor allem Sonne und Mond, eine bedeutende Rolle spielten und von den ursprünglich zehn Sonnen, die die Erde überhitzten, neun vom legendären Bogen-schützen Yi abgeschossen wurden und die Zehnte seither von einem dreibeinigen Raben übers Himmelsgewölbe getragen wird. Ebendieser mythologische Vogel findet sich auch als – sicherlich noch positives – Symbol der Sonne auf der linken Schulter des herbstlichen Festkleides des Tenno. Heute vermag es aber bereits die eine Sonne, die Erde zu überhitzen – und im Zeitalter der Atombomben und Atomkraftwerke tun es ihr die künstlichen Sonnen auf schreckenerregende Weise nach –, wodurch der Vogel, der die Aufgabe hat, den Lebensspender Sonne um den Erdball zu tragen, zum Fluch für viele wird, und dem Raben so Charakteristika zugesteckt werden, die ihm nicht nur in der griechisch-antiken Mythologie zugeschrieben werden: Symbol für die Nacht zu sein, und also Synonym für einen Unglücksbringer, für einen Boten des Todes. Ursprünglich weiß, schwärzte Apollon, der griechische Gott des Lichts, den ihm heiligen Vogel Koronis (auf Griechisch Krähe und Name einer seiner Geliebten, der er Untreue vorwarf) zur Bestrafung – im Bestreben, dem Licht alles Dunkle (und damit Weibliche) unterzuordnen. In der klassischen Antike (insbesondere bei Platon) und ebenfalls in der jüdisch-christlichen Tradition bekommt schließlich die Dominanz des Lichts gesellschaftliche Bedeutung, die bis heute prägend ist – in der Überbetonung, im Machtanspruch des Männlichen vor dem Weiblichen, in der Vorrangigkeit des Rationalismus, im Drang nach Fortschritt, der sich bis heute geradezu zu einem ungehemmten Fortschrittswahn auswuchs, im penetranten Klammern an Aggressions- und Eroberungsideologien, die in diesem Jahrhundert (und sicher auch im nächsten) zu verheerenden Kriegen führten und führen werden, an der rassistischen Höherbewertung von "weiß" gegenüber "schwarz", von "Herrenrassen" sogenannten "Untermenschen" gegenüber, Ideologien, die Länder wie Deutschland im Westen oder Japan im Osten zu Geißeln vieler Völker machten und ihnen unvorstellbar brutale Wunden zufügten, die bis heute noch nicht verheilt sind.
Ausgangspunkt für die Komposition KARAS.KRÄHEN, um die sich diese Überlegungen ranken, waren markdurchdringende Schreie der Raben in Tokio, die die Winternächte zerschnitten, als ich Anfang 1994 drei Monate lang Gast der Japan Foundation war. Aufnehmen konnte ich die schockierenden Stimmen der schwarzen Vögel allerdings erst im Sommer, als sie – umhüllt vom hohen Surren der Zikaden – wie in gleißendes Silber getaucht wirkten. Dies im Visier, im Ohr, bannte ich Szenen einer buddhistischen Zeremonie in der koreanischen Hafenstadt Pusan aufs Band, das Rattern einer Nähmaschine auf dem Markt dort ebenso wie das geschäftige Treiben in Cafés und Restaurants, nicht aber nur in Korea, sondern auch in Japan.

Bearbeitet habe ich die Aufnahmen Ende ‘94/Anfang ‘95 im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe, wobei sich herausstellte, daß sich das aufgenommene Material dabei durch Filtern, durch Dehnen von Zeit (Beschleunigen, Verlangsamen), durchs plötzliche Festsetzen von Klängen, also dem Anhalten bzw. Einfrieren von Zeit einander annäherte; die verschiedenen Dimensionen einer Welt rückten so zusammen und begannen, sich gegenseitig zu durchdringen.

Gerhard Stäbler