JOURNAL 9´1119 für Flöten, Schlagzeug, Tonband und Gerüche entstand 1996 am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe im Auftrag des Duos Archaeopteryx und greift als musikalisches Protokoll – in enger Verwandtschaft zur gemeinsam realisierten Musik des Tanztheaters Kassandra von Birgit Scherzer und Matthias Kaiser für das Staatstheater Saarbrücken – unter anderem auch auf zwei [...] Kompositionen der letzten 30 Jahre zurück; auf Material aus ...strike the ear... einerseits und auf einige von mir interpretierte vokale Passagen aus dem zweiten Teil [...] von drüber andererseits. Beide Stücke - ebenso wie die Komposition Kassandra für Schlagzeug und Stimmen - setzen sich mit Strukturen der Macht auseinander, mit körperlichen, physischen und mentalen; drüber sehr direkt, indem dort Konflikte, Abhängigkeiten, das Be-Herrschen auf die Spitze getrieben im Schrei oder Nicht-mehr-schreien-können enden, um dann – mit musikalischen Mitteln – die Auswirkungen physischer und psychischer Verknotungen in der Kommunikation unter Menschen analysieren zu können. ...strike the ear... nimmt sich dagegen von außen auf den Menschen zukommende Verhältnisse vor und lenkt das Hören auf Strukturen, die unsere Gesellschaft abstumpfen und so zu zentrieren versuchen, dass Gleichschritt das Maß aller Dinge zu werden droht. JOURNAL 9´1119 verknüpft diese Ansätze, fasst sie zusammen und vertieft sie dadurch, dass die Musik hier teils mit ihrer massiven Klanglichkeit, teils mit ihrer Zerbrechlichkeit, ihrer offenen Brüchigkeit - live und auf Band, hörend und sehend und riechend - in emotionale Tiefenschichten vordringt, um allegorisch auf ein Gefüge gesellschaftlicher Zwänge und Macht zu weisen, in denen wir stecken - unscheinbar oft, verborgen. JOURNAL 9´1119 "referiert" musikalisch Abläufe des Alltäglichen und weitet sie im Dialog der beiden Spieler über Kommunikationsnetze zu "Drahtseilakten" zwischen dem Hören sich untergründig, zwischen kaum merklich, aber dennoch allmählich sich verändernden Klängen, peitschend-nervenden "Ohrenstechern", dem warmen Schein fluoreszierenden Plastiktands und knisternd-stinkendem Fett, mit dem heutzutage landauf, landab Gaumen beleidigt werden. JOURNAL 9´1119 ist jedes musikalische, visuelle und olfaktorische Mittel recht, wenn es nur sensitive Gratwanderungen erlaubt, die ähnlich in vielen Alltagsbereichen zu beschreiten nötig wären; Alltagsbereiche, die jedoch oft - aus Bequemlichkeit, aus Mangel an Distanz - weiß bleiben.

Gerhard Stäbler, aus: ...weiße Räume erkunden..., in: Hg: C. Brüstle, M. Rebstock, H. Schulze: musik/politik, Saarbrücken (Pfau) 2004 (=Musik im Dialog V)