Die Figur der Kassandra hat mich deswegen immer fasziniert, weil in jeder Zeit meines Lebens sofort Parallelen zur Gegenwart sichtbar waren. In den 60er und 68er Jahren war mir bewusst, dass Entwicklungen in der Gesellschaft deutlich sind, aber nicht wirklich akzeptiert werden und auch nicht darauf eingegangen wird, sondern nur an Symptomen herumlaboriert wird. Und das ist eigentlich eine Charakterisierung, die bis heute gilt und wohl auch noch einige Zeit gelten wird. Anfang der 80er Jahre kam zu meiner großen Freude ein Roman, eine neue Beschäftigung mit dem Stoff durch Christa Wolf, die mich sofort in Bann zog aufgrund der neuen Perspektive, die sie zur Mythologie oder über die Mythologie hinaus gesehen hat und die auch auf heute eine Übertragung zuließ.
Ein ganz wichtiger Bereich, der sich mit der griechischen Mythologie geändert hat, ist die Funktion der Frau. Mit Apollon wurde das "Licht" installiert und mit diesem Licht wird der Beginn bzw. die Installierung des Patriarchats und die Aufhebung des Matriarchats umschrieben. Mit Kassandra ist durch Christa Wolf eine Figur wiederentdeckt, die beginnt, dieses angebliche "Dunkle" des Weiblichen gegen das Licht zu setzen und in ein Gleichgewicht zu bringen. Dieser Apollon bekommt eigentlich von Kassandra seine Macht, wird also gemacht. Das ist ja das Verhängnisvolle, was uns die ganzen 2000 Jahre danach ständig in Katastrophen getrieben hat: Dieses Unausgeglichene zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen.

Gerhard Stäbler, aus: ... auf dem St.-Andreas-Graben sitzen (1997)

 


In Vorbereitung der Oper CassandraComplex gebrauchte ich zum ersten Mal eine geschlossene Zahlenreihe, durch deren beständig abgewandelte Definition komplexe Vorgänge nachgezeichnet werden. Gewürfelt, definiert sie zunächst verschiedene Kassandra-Studien , deren Strukturen später in die Oper einfließen, thematische Pfeiler markierend; denn jede Studie behandelt für sich bestimmte Grundsituationen der Erzählung Kassandra von Christa Wolf, die schließlich zur Basis von CassandraComplex werden.

Gerhard Stäbler, aus: ...yes, No-no... (1997)