ZEICHEN. Drei StŸcke fŸr Kammerorchester entstand in der zweiten JahreshŠlfte 2008, im
Auftrag der 32. ãDuisburger AkzenteÒ. Diese hatten im FrŸhjahr 2009, unter dem
Motto ãBosporus – Tor der KulturenÒ, die heutige, im Wandel begriffene
TŸrkei zum Thema, insbesondere die Bedeutung Istanbuls als eines Modells fŸr
interkulturelles Zusammenleben. Das Werk Orhan Pamuks
bildete dabei einen der Schwerpunkte. Als Ausgangspunkt und Motto fŸr ZEICHEN wŠhlte StŠbler ein Zitat aus Pamuks Roman Schnee (2005)
dem er einige Zeilen aus dem Gedichtband Grauzone
morgens (1988) von Durs GrŸnbein gegenŸberstellte, um gewisserma§en einen
Bogen zu schlagen zwischen ãhierÒ und ãdortÒ, Šhnlich wie Istanbul seit langem
buchstŠblich eine BrŸcke zwischen West und Ost bildet.
Die drei StŸcke
kšnnen einzeln aufgefŸhrt werden, weisen aber gemeinsame Essenzen auf, die in
den Titeln angesprochen werden. Jedes Mal sind dabei Grenzbereiche im Spiel, in
denen ãGefahrÒ drohen kann. FŸr die Streicher stellt zum Beispiel Auf Messers
Schneide auf Grund der vorgegebenen Spielarten und der sehr hohen Lagen eine
Gratwanderung dar, wŠhrend in Grauzone(n) Grenzen und scharfe Konturen
verwischt werden – so wie Schnee alle Umrisse verwischt. Denn Schnee kann
sehr schšn sein, kann aber auch alles einebnen, kann blenden oder Menschen
isolieren (wie in Pamuks Roman). Auch GrŸnbein dichtete
ein langes Poem Vom Schnee, aber
StŠbler entschied sich fŸr die politische Seite von Grenzbereichen, wie sie im
1988 in der DDR entstandenen Gedichtband Grauzone
morgens anklingen (etwa im Wort ãRei§wšlfeÒ).
Eine reine
Streicherbesetzung wie in ZEICHEN bildet in StŠblers Schaffen eher die Ausnahme;
wie eigentlich immer, war ihm die Besetzung Mittel, das auszudrŸcken, was er im
StŸck thematisieren wollte. Die Entscheidung fŸr Instrumente aus einer einzigen
Klangfamilie dient hier der Schaffung homogener, sozusagen monochromer KlangflŠchen.
Diese sind zwar nicht Eins zu Eins als akustisches Pendant zu oder als Symbol
fŸr Schnee gemeint (denn ein wirklich ãwei§esÒ Rauschen ergeben sie nicht),
aber der reine Streicherklang ermšglicht dennoch unzŠhlige Nuancen in Grau- und
Wei§zonen. Zudem liebt StŠbler die BrŸchigkeit von StreicherklŠngen, die
jenseits des klassischen Streichertons entstehen: das Spiel mit dem Holz des
Bogens, mit einer Kombination aus Haar und Holz, auf dem Kamm bzw. dem
Griffbrett. Aus historischer Sicht wird der traditionell eher weiche, wohlige
Klang des reinen Streicherensembles hiermit aufgerauht,
wŠhrend der Streicherapparat als Ganzes doch als eine gleichgerichtete Einheit,
als ein einziger Organismus aus gebŸndelten Einzelstimmen agiert, mit einem
gemeinsamen Tempo und gemeinsam gestalteten dynamischen Kurven.
Nur GefŠhrliche RŠnder (I) kennt eine
durchgehende metrische Unterteilung der Zeit in kleine Einheiten, nŠmlich in
einen Strom aus durchgehenden Vierteln, in mehreren Stimmen zugleich.
Gemeinsame Temposchwankungen bringen ihn ins Flie§en. Gleich zu Beginn hebt
dieser Strom aus Viertelnoten krŠftig an, um aber bald danach in eine
tremolierende, vibrierende Klang- und GerŠuschflŠche aufzugehen. Dieses Muster
eines verschwindenden Impulses wiederholt sich einige Male, bis ein kollektiver
Zwšlftoncluster in mittlerer Tonlage einsetzt, der in kŸrzester Zeit extremen
dynamischen Schwankungen unterliegt. Von hier aus fangen die Spieler jeder fŸr
sich an, innerhalb des Clusters chromatische Skalen auf- und abwŠrts zu
spielen, dabei zunehmend Glissandi einmischend. Indem nun die hšheren Streicher
allmŠhlich in immer hšhere Tonbereiche aufsteigen, die tieferen Streicher
zugleich in immer tiefere Regionen abgleiten, sollte ãein breites
Frequenzspektrum entstehenÒ, so StŠbler in der Partitur. In diesem innerlich glissandierenden Klangband dŸrfte ein Bezug zum Bild des
Schnees liegen: man kann es als ein dichtes Schneetreiben der Frequenzen hšren.
In einem ãpoco a poco decrescendo al nienteÒ
verschwinden die anfangs extrem lauten KlangbŠnder dann am oberen bzw. unteren
Rand ins Unhšrbare, in die grš§tmšgliche Entfernung, und bleiben 21 Sekunden
lang au§erhalb der Wahrnehmung. Diese Stille ist ein paradoxes Extrem, als
Gegenpol vergleichbar, so StŠbler, dem ãPistolenschuss mitten in einem
KonzertÒ, von dem Stendhal in der Kartause von Parma spricht und den Pamuk als Motto seinem Roman Schnee voranstellt. Anschlie§end
tauchen die Streicher gewisserma§en an gleicher Stelle wieder auf und kehren
rŸcklŠufig, Ÿber Glissandi und chromatische Skalen, spiegelsymmetrisch wieder zum
stehenden, aber innerlich vibrierenden Zwšlftoncluster in mittlere Tonlage
zurŸck,
bevor ein letzter
Strom aus Viertelnoten den I. Teil beschlie§t.
In Grauzonen(n) (II) wird der Eindruck des
Streicherensembles als eines einzigen Klangorganismus noch verstŠrkt. Die
Streicher sind meist maximal geteilt und gestalten Klangblšcke von gro§em
Tonumfang, die durch kontinuierlich wechselnde Spielweisen (col
legno, col legno con crine,
arco; sul tasto, sul ponticello; mit oder ohne Tremolo), kombiniert mit
gemeinsam aufgesuchten dynamischen Extremen, fortwŠhrend innerlich im Fluss
sind und farblich changieren. Bewegungen im Tonhšhenbereich sind ausschlie§lich
als meist sehr langsame Glissandi, in allen Stimmen gleichzeitig, angelegt.
In Auf Messers Schneide (III) werden die
statischen StreicherklŠnge durch individuelle Rhythmisierungen
innerlich zum Pulsieren gebracht. Zum ersten Mal treten nun einzelne Streicher
nacheinander mit kurzen solistischen Passagen in ruhigem, freiem Tempo aus der KlangflŠche
hervor; man darf sie als Individuen betrachten, die sich aus einem Kollektiv lšsen.
Diese ganz wenigen expliziten Melodien in ZEICHEN heben sich extrem von den bisherigen
Clustern ab und sind auffŠllig von kleinen Terzen geprŠgt. Letztere trage er,
so StŠbler, als intervallische Gesten aus Šlteren
Kompositionen mit sich herum; auch hiersetzen sie ein prŠgnantes melodisches
ãZeichenÒ. Die letzten Takte nehmen die
durchgehende
Viertel-Bewegung des I. Teils wieder auf und bilden einen Schluss, der nicht abschlie§t,
sondern der eine mšgliche …ffnung, ein Weitergehen andeutet.
Hella Melkert
XII 2009